Reisephilosophie


Fotos: Klaus Kufeld

Als Reisende sind wir Zeugen der Welt. Wir sehen sie und mehr: wir nehmen an ihr teil. Doch zunächst ist uns alles Neue noch fremd und bringt uns zum Staunen. Vielleicht haben wir ja auch noch nie einen schneeweißen Strand gesehen, eine sonnengereifte Mango gegessen oder so viel Lächeln der Menschen erlebt. Meistens bietet die Reise, wenn sie nicht Urlaub ist, enorm konzentrierten Erlebnisstoff, der uns in seinen Bann zieht, unsere Neugierde befriedigt und uns fasziniert. Zweifellos birgt sie auch Verführungen, Überraschungen und auch Extreme. Wir bringen sie mit Exotik in Verbindung, denn wir haben „das Besondere“ gesehen und erzählen davon, wo uns die Augen aufgegangen sind. Aber was erzählen wir, wenn wir bei den matrilinearen Clans in Bukittinggi waren oder bei den schwimmenden Gärten im Inle-See oder in der Real-Hölle Calcutta? Oder im Urwald oder am Traumstand? Oft schwingt dabei der Ton der Sensation mit und wir haben uns zu fragen, was unsere Reise ausgemacht hat, ob wir nur geschaut und genossen haben oder ob wir uns etwas dabei gedacht und gar gelernt haben. Was ist überhaupt das Reisen? Wie kommt es, dass wir eine Reise nach Australien „Reise“ nennen, nicht aber eine Fahrradfahrt oder einen Ausflug  nebenan in den Park? Warum ist für die einen das „Reisen ein Vorgeschmack auf die Hölle“ (Durs Grünbein) und für die anderen Quell von Erkenntnis (Goethe)?

 

Den Charakter eines gewöhnlichen Reiseführers können wir uns als Buch gewordenen Lexikoneintrag vorstellen. Was darin steht, bringt Information, System und eine gewisse Orientierung für das Reiseziel; er ist das Produkt für die perfekte Ankunft und ideal für Urlaub, Ausflug, Geschäftsreise oder Besichtigungstrip, denn er verspricht Genuss am Ziel, vermehrt unser Wissen und nimmt uns manche Entscheidung ab. Wir können ruhig seinen Empfehlungen folgen. Doch wie kommen unsere Entscheidungen zustande, was ist unser Motiv? Ankunft und Bequemlichkeit? Vielleicht das prickelnde Erlebnis? Auch die besten Reiseführer setzen uns im Ziel ab, bevor wir überhaupt angekommen sind, und bedienen Ziel-Interessen: die der Kulturliebhaber, der Naturfreunde, der Sightseer, der Traveller usw. Bereits mit deren Druckauflage bzw. Verbreitung wird jeder „Geheimtipp“ dem Massentourismus preisgegeben. (…)

 

Sind wir einmal aufgebrochen, lassen wir uns von der Faszination des Neuen bannen und –  dem Alltag enthoben – „lassen wir uns gehen“. Denn, wie Elias Canetti gesagt hat, „auf Reisen nimmt man alles hin, die Empörung bleibt zu Haus. Man schaut, man hört, man ist über das Furchtbarste begeistert, weil es neu ist.“ Das Verblüffende aber ist sein Schluss daraus: „Gute Reisende sind herzlos.“ Was heißt das? Dass wir uns nicht unkritisch alles vorsetzen lassen, was die Tourismusbranche sich ausdenkt? Dass wir angesichts des instabilen Zustands der Welt nicht nur unseren Reisewohlstand pflegen sollen? Dass wir zwischen dem gewordenen Einerlei der Reiseziele unterscheiden lernen? Zudem hat sich mit der Globalisierung auch der Geist des Reisens geändert. Zwar mag das Reisemotiv heute kein anderes sein als zu Zeiten von Chamissos Reise um die Welt oder von Goethes Italienischer Reise, jedoch scheint die Sinnlichkeit des Reisens, die wir etwa mit dem Empfindsamen Reisen Laurence Sternes oder mit dem Entdeckungspathos eines Alexander von Humboldt oder Georg Forsters verbinden, heute verloren. Wollen wir also „herzlos“ werden und „gute Reisende“, müssen wir die Vorteile der globalen Welt der kurzen Wege und der schnellen Erfahrungen in Erkenntnis und Glück umarbeiten, eine Arbeit, die uns niemand abnimmt, auch nicht der beste Reiseführer. Heißt dann also „Herzlosigkeit“ Wachheit, Konzentration, Entdeckungswillen, persönliche Urteilskraft, Genussfähigkeit? Vielleicht sind wir dazu nur in der Lage, wenn wir erfahren haben, dass die ausgedehnte Welt im Grunde erfahrungsärmer geworden ist, denn die Globalisierung ist ein Eingriff in die Eigenart des lokalen Zaubers. (…)

 

Gut noch zu wissen ist, bevor man abfährt: „Die magische Kraft der Reise liegt darin, dass sie das Leben reinigt, bevor man es einrichtet und ausschmückt“ (Nicholas Bouvier). Mit der Reinigung kommt ein Gefühl von seiner seelischen und geistigen Gesamtverfassung auf und ein Bewusstwerden seiner Befangenheit, seiner Häuslichkeit, seiner Deformationen. Sobald man aufbricht, löst sich alles Starre sofort auf. Es ist nichts mehr da, woran man sich sonst aus Gewohnheit klammern könnte. Jede Minute eine neue Wahrnehmung, ein fremder Mensch, eine ungewohnte Szene, jede Sekunde ein neues Peilen und Orientieren, Justieren und Entscheiden. Je weiter man vorhat wegzugehen, desto größer die Erwartung, manchmal gar Angst vor dem Unbekannten. Immer jedoch blendet sich objektiv ein neues Gesichtsfeld ein, in dem man sich subjektiv orientiert – und es auch kann, weil man es muss. So ist das Reisen Loslösung von der eigenen Klammerung, Aufbruch, Bewährung des Denkens. Vielleicht wird das Reisen sehenden Auges dann zur Lebenskunst.

(Auszug aus: Reisen. Ansichten und Einsichten)